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Gedenkort Nordbahnhof – Erinnern an Deportationen aus Bochum

Dr. Hubert Schneider ist Historiker und hat über 30 Jahre lang Lehrer an der Ruhr-Universität Bochum ausgebildet. Seit 1995 beschäftigt er sich mit der Geschichte der Bochumer Jüdinnen und  Juden. Der Anlass war damals die Gründung des Vereins „Erinnern für die Zukunft“.  Der Verein überzeugte die Stadt Bochum, die überlebenden Mitglieder der jüdischen Gemeinde Bochums, einzuladen.

 

Im Jahr 1995 folgte eine Gruppe von ungefähr hundert Menschen der Einladung des Vereins und reiste nach Bochum. Damit wurde das vordergründige Vereinsziel erreicht. Es stellte sich jedoch heraus, dass es sinnvoll sein könnte, die Kontakte zu diesen Menschen zu intensivieren, um weitere Informationen über die Geschichte jüdischen Lebens in Bochum sowie die Schicksale von Gegnern der Nationalsozialisten zu erfahren. Im Zuge dieser Erinnerungsarbeit bereiste Dr. Hubert Schneider den Globus und suchte Zeitzeugen auf nahezu allen Kontinenten auf. Er sammelte die Berichte dieser Menschen und schrieb diverse Bücher.

Der Verein „Erinnern für die Zukunft“ existiert bis heute. Höchste Priorität genießt momentan die Kontaktpflege zu den Überlebenden bzw. deren Angehörigen. Nachfahren werden bei der Ahnenforschung unterstützt. Jährlich gibt der Verein eine Zeitschrift mit dem Thema der Erinnerungsarbeit in der Stadt Bochum heraus. Darüberhinaus dient diese Zeitschrift als Forum des Austausches unter den Angehörigen.

„Erinnern für die Zukunft“ wirkte auch bei der Gründung der „Initiative Nordbahnhof“ mit. Diese verfolgt das Ziel, den Nordbahnhof als zentralen Erinnerungsort Bochums zu gestalten.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Beginnen möchten wir unser Gespräch mit einer allgemeinen Frage. Wann begannen im Dritten Reich Deportationen von Menschen in die Konzentrations- und Vernichtungslager und welche Ziele verfolgten die Nationalsozialisten mit diesen Maßnahmen?

Dr. Hubert Schneider:
Das Thema Deportation ist sehr komplex. Einzeldeportationen gab es bereits ab 1938. Hierbei handelte es sich zunächst um die sogenannten „Ostjuden“, die polnische Staatsbürger oder staatenlos waren.  Diese Menschen wurden aus Deutschland einzeln oder in kleinen Gruppen abgeschoben.

Eine große Abschiebung fand reichsweit Ende Oktober 1938 statt, also wenige Tage vor der Reichsprogromnacht. Betroffen von dieser Maßnahme waren nahezu 20 000 Menschen, in Bochum waren ca. 70 Personen betroffen.  Sie wurden  vom Bochumer Hauptbahnhof aus, der sich damals noch in der Nähe der heutigen Viktoriastraße befand,  am 28. Oktober 1938 an die deutsch-polnische Grenze gebracht. Die Polen wollten diese Menschen jedoch auch nicht in ihr Land hineinlassen, sodass sie im Grenzgebiet festsaßen. Spätestens zum Kriegsbeginn jedoch wurden diese polnischen Juden ins Landesinnere deportiert.
In diesen Jahren verfolgten die Nationalsozialisten noch nicht das Ziel, die Juden zu vernichten. Sie wollten das Reich zunächst „judenrein“ machen. Trauriger Höhepunkt auf dem Weg dahin war die Progromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Insbesondere wohlhabende jüdische Männer wurden auch aus Bochum in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Sie wurden wieder entlassen, wenn ihre Familien nachweisen konnten, dass sie sich um die Auswanderung bemühten.

Mit dem Beginn des 2. Weltkrieges änderte sich die Situation jedoch schlagartig. Der Russlandfeldzug der Nationalsozialisten verfolgte das Ziel, die Grenzen des Reiches zu erweitern. Die Juden sollten jenseits des Urals angesiedelt werden. Zum Jahreswechsel 1941/1942  deutete sich insbesondere nach der Niederlage in der Schlacht um Moskau das Scheitern des Russlandfeldzuges an. Zu dieser Zeit ist vermutlich die Entscheidung gefallen, die deutschen Juden sowie diejenigen aus den bereits eroberten Ländern zu ermorden.

Auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 war die Vernichtung der Juden bereits beschlossene Sache. Die Konferenz diente lediglich der Organisation dieses schrecklichen Vorhabens.

Die Deportationen aus Bochum sollten planmäßig bereits im Oktober 1941 beginnen. Im Zuge des „Weihnachtsverkehrs“ - viele Soldaten waren gegen Ende des Jahres 1941 auf Heimaturlaub - mussten diese Deportationen verschoben werden. Aus Bochum begannen dann die ersten großen Deportationen im Januar 1942. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Bochum ungefähr noch 240 Juden. Die meisten dieser Juden wurden in großen Gruppen im Januar, April und Juni nach Riga, Zamosc und Theresienstadt deportiert.

Im Jahr 1943 gab es viele Einzeldeportationen nach Auschwitz und Theresienstadt.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Wie sahen die Einzeldeportationen aus?

Schneider:
Dies lässt sich gut am Beispiel von Frau Lessing belegen. Sie war verheiratet mit einem evangelischen Mann. Die beiden hatten neun Kinder. Frau Lessing wurde von einer Begleitperson, vermutlich von der Polizei oder der Gestapo, abgeholt und nach Theresienstadt deportiert. Dort starb sie aufgrund der unmenschlichen Behandlung und ihres fortgeschrittenen Alters binnen drei Wochen.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Wie viele Orte, von denen aus Deportationen stattfanden, gab es in Bochum?

Schneider:
Die meisten Deportationen fanden vom Hauptbahnhof aus statt, beispielsweise die großen Deportationen nach Riga und Zamosc. Diverse Quellen belegen, dass die Deportation nach Theresienstadt Ende Juni 1942 vom Nordbahnhof aus ging. Von dort aus wurden Juden mit dem Bus oder dem Zug zunächst nach Dortmund befördert.

AG Erinnerungsorte Bochum:
In welchem Zeitraum fanden die Deportationen vom Nordbahnhof Bochum aus statt?

Schneider:
Belegt sind Deportationen im September und Oktober 1944 von mit Nichtjuden verheirateten Juden, deren nichtjüdischen Partnern, den  „jüdisch Versippten“, und den Kindern aus diesen Verbindungen, den „Mischlingen“.  Weitere Einzeltransporte fanden bis zum Februar 1945 statt. Die meisten der damals Verschleppten mussten in Unternehmen der Organisation Todt Zwangsarbeit leisten.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Welche von den Nationalsozialisten diffamierten Gruppen wurden vom Nordbahnhof Bochum aus deportiert?

Schneider:
Neben Juden und „jüdisch Versippten“ wurden auch Sinti und Roma am Nordbahnhof gesammelt und über Dortmund in das 1943 errichtete „Zigeunerlager Auschwitz“ deportiert. Dieses Lager bestand bis 1944 und wurde dann in zwei großen Aktionen 1944 geleert. Die Sinti und Roma wurden aufgrund des vorherrschenden Platzmangels mit Beginn der Deportationen der ca. 500.000 ungarischen Juden ermordet. Tag und Nacht rollten Züge aus Ungarn an. Auschwitz-Birkenau war als Vernichtungslager nicht mit den Konzentrationslagern zu vergleichen. Hier wurden täglich bis zu 9000 Menschen in den Gaskammern und Krematorien ermordet. Der Massenmord wurde bis ins kleinste Detail von SS-Leuten und Ingenieuren der Firma „Topf und Söhne“ aus Erfurt auf perfide Art und Weise „perfektioniert“.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Wie gestaltete sich der Ablauf dieser Deportationen?

Schneider:
Schulen und öffentliche Plätze dienten als Sammelpunkte für die Deportationen. Von  dort ging es weiter zum Nordbahnhof oder Hauptbahnhof. Auch Personen aus dem Umland Bochums, beispielsweise aus Witten, mussten sich an diesen Orten zusammenfinden. Hier wurden Familien bereits voneinander getrennt und entsprechend der Bedürfnisse der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie verteilt.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Gibt es Quellen, die diese Deportationen belegen und die Schicksale der Betroffenen durchleuchten?

Schneider:
Ein Beispiel für eine solche Primärquelle ist das Tagebuch der Susi Schmerler. Die  Familie Schmerler gehörte zu den sog. Ostjuden, die im Oktober 1938 von der deutschen Regierung ausgewiesen wurde. In Polen wurden sie nicht aufgenommen. So lebten sie bis zum Kriegsausbruch in einem Lager an der deutsch-polnischen Grenze. Susi erhielt – zusammen mit anderen Jugendlichen – Anfang 1939 die Erlaubnis, nach Palästina auszuwandern. Noch in Deutschland begann sie ein Tagebuch zu schreiben, das sie bis Mitte 1941 fortführte. Darin beschreibt sie ihren Weg nach Palästina und die ersten zwei Jahre ihres Aufenthalts in einem Kibbuz. Einen breiten Raum nehmen in dem Tagebuch ihre Bemühungen ein, den Kontakt mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder zu pflegen. Als dieser Kontakt nach Kriegsausbruch abbrach, schreibt sie in ihrem Tagebuch fiktive Briefe an die Eltern und den Bruder. Nach dem Krieg erfuhr Susi über das Rote Kreuz, dass ihre Familie zuletzt in Krakau war. Dort verlieren sich die Spuren. Das Tagebuch ist ein eindrucksvolles Dokument: Nicht für die Öffentlichkeit gedacht, kommen in ihm die Nöte und Gefühle eines jungen Mädchens zum Ausdruck, das angesichts der sich immer mehr zuspitzenden  Lebenssituation mehr als einmal fast den Lebensmut verliert.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Was geschah nach Kriegsende mit den Deportierten? Kehrten sie nach Bochum zurück? Wenn ja, aus welcher Motivation heraus?

Schneider:
Nur wenige aus Bochum Deportierte überlebten die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Ein kleiner Teil kehrte in die ehemalige Heimat zurück. Die meisten nutzten Bochum nur als Übergangsstation und versuchten nach Amerika oder in ein anderes Land auszuwandern.
Alfred Salomon war einer der wenigen, die zurückkamen, um zu bleiben und an der  Neugründung der jüdischen Gemeinde in unserer Stadt mitzuwirken. Er durchlief mehrere Konzentrationslager, u.a. das in Auschwitz.
Die Rückkehrer waren hochtraumatisiert. An psychologische Betreuung in heutiger Form war nicht zu denken. Die neu gegründete Gemeinde war der Ort, so sie sich mit anderen Menschen mit vergleichbaren Erfahrungen austauschen konnten.
Das Zusammenleben zwischen den Überlebenden und denjenigen, die (tatenlos) zugesehen hatten, was ihnen und ihren Familien nach 1933 geschehen war, war nach 1945 kompliziert und immer noch geprägt von Ressentiments  und einem immer noch vorhandenen massiven Antisemitismus. Zurückkehrende waren zunächst mittellos. Sie wurden teilweise in Wohnungen von stadtbekannten Nazis untergebracht, was u.a. den Nährboden für neue Diskriminierungen erklärt. 1948 wurden die meisten der alten Nazis nach Entnazifizierungsverfahren entlastet und als „Mitläufer“ deklariert. Sie erhielten ihre Wohnungen zurück.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Warum ist es wichtig, Erinnerungsorte als Möglichkeit des kollektiven Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus zu schaffen? Wie könnte der Nordbahnhof, als zentraler und authentischer Ort der Erinnerungskultur in Bochum aussehen?

Schneider:
Leider gibt es in Bochum sehr wenig authentische Erinnerungsorte. Solche Orte besitzen ungeheures Potenzial. Sie konstruieren eine Situation und Atmosphäre, die der Realität sehr nahe kommt und sie wirken eindringlicher als Erzählungen.
Die Initiative Nordbahnhof entwickelt derzeit eine Konzeption zur Gestaltung des Erinnerungsortes. Dafür soll ein Teil des Gebäudes mit mehreren Räumen angemietet werden. Ziel ist es, einen Ort zum Gedenken aller Opfer des Nationalsozialismus zu schaffen. Die Initiative möchte den Ort sukzessive aufbauen. Neben historischer Arbeit, der Sammlung von Biografien, soll der Nordbahnhof auch als Ort der Begegnung dienen und beispielsweise den Ausgangspunkt für Stadtführungen darstellen und Ausstellungen beherbergen.

AG Erinnerungsorte Bochum:
Welche Möglichkeiten gewähren uns Rückblicke auf die Vergangenheit, wie eben diese Aufarbeitung der Geschichte des Bochumer Nordbahnhofs?

Schneider:
Um es mit den Worten Primo Levis zu sagen:
„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“
Aktuell gibt es viele gute Gründe, eine aktive Erinnerungskultur zu etablieren. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus sowie Hass auf Andersdenkende beeinflussen unsere Gesellschaft auch heute. Wichtig ist es, zu verstehen, wie diese schrecklichen Ereignisse passieren konnten. Der Plan der Nationalsozialisten war nicht von Anfang an, die Juden zu vernichten. Es handelt sich hierbei um einen Prozess, der mit der vermeintlich harmlosen Enteignung und Diskriminierung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen seinen Anfang nahm. Erinnerungsarbeit sollte über das Geschehene hinausgehen und transferfähig für die Gegenwart und Zukunft sein. Sie kann Geschichte erlebbar machen. Auf verständliche Art und Weise. Für alle.